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November
2022

Frankreich: Gewerkschaften, soziale Bewegungen und Gelbwesten

Mit den neoliberalen Reformen, die Macron zügig umgesetzt hat, ist der soziale Dialog zwischen den sozialen Bewegungen, den Gewerkschaften und der Regierung schwieriger und zersplitterter geworden. Trotz massiver Proteste wurde 2023 die Anhebung des Rentenalters auf 64 Jahre beschlossen. Die Gewerkschaften und sozialen Bewegungen konnten den Kurs Macrons nicht entscheidend ändern. Doch sie artikulieren kapitalismuskritische und klassenkämpferische Positionen, auch unter der Berücksichtigung migrantischer Kämpfe. Der Kampf geht weiter!

Frankreich: Soziale Bewegung, Gewerkschaften und Gelbwesten

Die französische Gewerkschaftsbewegung

Die französische Gewerkschaftsbewegung schon seit dem frühen Anbeginn der Arbeiterbewegung in mehrere Dachverbände aufgespalten. Zu den eher sozialdemokratischen und konsensorientierten Verbänden gehören der Französische Demokratische Gewerkschaftsbund (CFDT) und der Allgemeine Gewerkschaftsbund-Arbeitermacht (CGT-FO). Sie akzeptieren den Abbau von gesetzlichen Regelungen, wenn die Mitbestimmung in den Betrieben verbessert wird. Der gewerkschaftliche Organisierungsgrad stagniert bei gerade einmal 11%.

  • Die ehemals mit der Kommunistischen Partei eng verbundene CGT setzt auf die Mobilisierung auf der Straße. Sie hat eine klassenkämpferische Orientierung und will aus den Betrieben in die Gesellschaft hineinwirken.
  • Die CFDT, die eher Angestellte organisiert, hat den CGT seit 2017 in Betriebsratswahlen als stärkste Gewerkschaft abgelöst. Dies liegt vorwiegend am Strukturwandel (von Produktion in Großunternehmen hin zu Dienstleistungen).

Macrons Reformpolitik

Der 2017 und 2022 zum Präsidenten gewählte Emmanuel Macron und seine Partei LREM (Die Republik in Bewegung!) lehnen den zuvor üblichen sozialen Dialog und die staatlich vermittelten Absprachen zwischen Unternehmerverbänden und Gewerkschaften ab.

Macron lässt alle Reformprojekte in kürzester Zeit verabschieden, um schnell Fakten zu schaffen.

Wochenlang kam es zu Streiks bei der SNCF
2018 protestierten alle gesellschaftlichen Bereiche, vor allem aber Gewerkschaften und Studierende, gegen die Reformen Macrons, wie Steuersenkungen in Milliardenhöhe für französische Großunternehmen, über 100.000 Stellenkürzungen im öffentlichen Dienst, die Überführung der Staatsbahn SNCF in ein privatrechtliches Unternehmen, die Verschärfung des Asylrechts und eine Neuordnung der Hochschulzulassung.
Im November 2018 entstand überraschend die Bewegung der Gelbwesten. Der Auslöser mag die Ablehnung einer Steuer gewesen sein, die den Dieselpreis erhöht hätte, die Forderungen der Gelbwesten gingen schnell weit darüber hinaus. Unorganisierte rechte Akteure hatten die Aktionen in den sozialen Medien mit angestoßen, doch unter den Gelbwesten dominierte die Sorge vor dem Abbau staatlicher Infrastruktur, Armutsrenten und einer ungerechten Besteuerung großer Vermögen.

  Wochenlang kam es zu Streiks bei der SNCF, dutzende Universitäten wurden besetzt. Am 5.Mai 2018 demonstrierten in Paris 130.000 Menschen. Die neoliberalen Reformen konnten aber nicht verhindert werden.

Solidarität mit den migrantisch geprägten Vorstädten

Rassistische Töne spielten keine Rolle; vielmehr wuchs mit der Zeit die Solidarität mit den Menschen der migrantischen Vorstädte. Dort begegnen Staat und Polizei Protesten gegen Ausgrenzung und Armut seit Jahrzehnten mit Gewalt. Von dieser Konstellation sahen sich die Gelbwesten selbst betroffen.

Was konnte erreicht werden?

Die Gelbwesten konnten den Kurs Macrons nicht entscheidend ändern. Doch sie haben kapitalismuskritische und klassenkämpferische Positionen neu artikuliert, auch unter der Berücksichtigung migrantischer Kämpfe.

Auch Polizeigewalt wird nun gesellschaftlich thematisiert, verknüpft mit einer strukturellen Analyse des hierarchischen, männlich geprägten und rassistischen Grundkonsens innerhalb der Polizei.

Große Proteste für eine Stärkung des öffentlichen Gesundheitssystems in Frankreich
Der harte Lockdown während der Covid-19-Pandemie verhinderte monatelang Proteste, doch danach waren die Gelbwesten wieder präsent. Große Proteste für eine Stärkung des öffentlichen Gesundheitssystems folgten.
rogressive gesellschaftliche Organisationen und der CGT verfassen einen Aufruf für einen sozial-ökologischen Aufbruch.
Im Mai 2020 verfassten sämtliche progressive gesellschaftliche Organisationen und der CGT einen Aufruf für einen sozial-ökologischen Aufbruch. Der Druck der Bewegungen führte auch zur Annäherung der Linksparteien untereinander.

Erfolg für das linke Bündnis bei den Kommunalwahlen

Bei den Kommunalwahlen im März und Juni 2021 erzielten linke Bündnislisten große Erfolge. Im April 2022 verfehlte Jean-Luc Mélenchon als Kandidat der sozialistischen Partei Rebellisches Frankreich (LFI) mit 21,95% der Stimmen nur knapp die Stichwahl für die Präsidentschaft. 

 

Widerstand gegen Macrons Rentenreform

Widerstand gegen die Rentenreform
Im Jahr 2023 hat Macron die Rentenreform, die er aufgrund der COVID-19-Krise verschoben hatte, wiederaufgenommen. Der Ankündigung einer schrittweisen Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 64 Jahre bis 2030 führte zu Massenprotesten in Frankreich. In Städten wie Marseille, Nantes, Lyon, Lille, Bordeaux, Toulouse, Rennes, Caen, Rouen, Nevers, Lons-Le-Saunier, Orléans, Laval, Clermont, Rodez, Vierzon, Nancy, Limoges, Montpellier, Amiens, Brest, Paris und anderen haben sich Hunderttausende von Menschen auf die Straßen begeben, um gegen die Rentenreform der neoliberalen Regierung zu demonstrieren.

Die Regierung hat auch angekündigt, dass ab 2027 Menschen mindestens 43 Jahre arbeiten müssen, um eine volle Rente zu erhalten. In Paris allein haben laut Berichten 400.000 Menschen an den Protesten teilgenommen. 68% der Bevölkerung sind laut Umfrage gegen die Reform.

Beschluss trotz Misstrauenvotum im Parlament

Im französischen Parlament wurden zwei Misstrauensanträge gegen die Regierung von Präsident Emmanuel Macron aufgrund der umstrittenen Rentenreform gestellt. Die Regierung hat jedoch eine Mehrheit im Parlament, die die Anträge abgelehnt hat. Bei der ersten Abstimmung entzogen 278 Abgeordnete der Mitte-Regierung unter Präsident Emmanuel Macron das Vertrauen, aber die Rentenreform wurde dennoch beschlossen. Das schrittweise Anheben des Renteneintrittsalters von 62 auf 64 Jahre ist nun offiziell verabschiedet.

Was sind die Forderungen?

► Die Demonstrant*innen haben der Regierung ein Ultimatum gestellt, das Gesetz zurückzuziehen.

► Sie fordern auch, dass das Rentenalter auf 60 Jahre gesenkt wird und die Löhne erhöht werden, um der Inflation und der Krise der Lebenshaltungskosten entgegenzuwirken.

Solidarität in ganz Europa

Arbeiterklasse-Gruppen in ganz Europa, darunter das All Workers Militant Front (PAME) in Griechenland, die Workers’ Party of Belgium (PTB/PVDA), die Communist Youth Front (FGC) in Italien und andere, haben ihre Solidarität mit den Protesten der Arbeiter*innen in Frankreich zum Ausdruck gebracht.

Nutzen und Weitergeben!

Erzählung: Dario Azzellini und Adriana Yee Meyberg, Grafik: Carina Crenshaw

Dies ist ein visuelles Storytelling inspiriert vom Artikel "Kein Ende des Widerstands. Die sozialen Bewegungen und Emmanuel Macron" von Sebastian Chwala, der in dem Sammelband "Mehr als Arbeitskampf! Arbeiterinnen und Arbeiter weltweit gegen Autoritarismus, Faschismus und Diktatur (externer Link, öffnet neues Fenster)" veröffentlicht wurde.

Diese visuelle Erzählung wird unter den Bedingungen der Creative Commons Lizenz CC BY 4.0 (externer Link, öffnet neues Fenster) veröffentlicht! Teile, nutze oder adaptiere diese grafische Erzählung für deine Bildungsarbeit. Vergiss nicht es weiter unter den gleichen Bedingungen zu veröffentlichen und dabei L!NX und die Autor*innen zu erwähnen!

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