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November
2022

Bundesrepublik Deutschland: Gewerkschaften und Antirassismus

Arbeiter*innenkämpfe haben in Deutschland eine lange Tradition. Im Laufe der Zeit haben sie sich nicht nur auf die Forderung nach besseren Arbeitsbedingungen konzentriert, sondern waren auch - wenn auch am Anfang in eher schüchterner Form - mit dem antirassistischen und antifaschistischen Kampf verbunden. In der gewerkschaftlichen politischen Bildung wurde der rechten Hetze nach dem „Sommer der Migration“ 2015 verstärkt ein realistisches Bild der Asyl- und Migrationspolitik entgegengesetzt.

Deutschland gegen Rassismus

Arbeitskämpfe in Deutschland: Erfolge und aktuelle Lage

Ein wichtiger Auslöser für Arbeitskämpfe sind Tarifverhandlungen zwischen Arbeitgeber*innen und Gewerkschaften. Die Gewerkschaften fordern oft höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen, während die Arbeitgeber*innen versuchen, die Kosten niedrig zu halten. Wenn sich die Parteien nicht einigen können, kann es zu Streiks oder anderen Arbeitskämpfen kommen. Arbeitskämpfe in Deutschland können verschiedene Formen annehmen, darunter Streiks, Demonstrationen, Boykotte, Betriebsbesetzungen und andere Formen des zivilen Ungehorsams. In einigen Fällen können die Arbeitskämpfe auch gewalttätig werden, aber dies ist eher selten.

Arbeiter*innenkämpfe
In den letzten Jahren haben Arbeiter*innen in Deutschland erfolgreich für die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns gekämpft. Das kann dazu beitragen, Lohndumping und prekäre Beschäftigung einzudämmen. Gewerkschaften haben auch in der Vergangenheit erfolgreich für die Verkürzung der Arbeitszeit gekämpft, insbesondere im öffentlichen Dienst. So wurde beispielsweise die Wochenarbeitszeit für Lehrer von 42 auf 40 Stunden reduziert. Arbeitsbedingungen im Einzelhandel wurden auch durch Arbeitskämpfe verbessert, indem tarifliche Regelungen für Arbeitszeit, Überstunden und Sonntagsarbeit eingeführt wurden. Arbeiter*innen haben sich auch für die Sicherheit von Arbeitsplätzen eingesetzt. So wurde beispielsweise bei der Deutschen Telekom eine betriebsbedingte Kündigungssperre vereinbart.

Streiks im öffentlichen Dienst und im Verkehrssektor

Bei den Tarifverhandlungen im Jahr 2023 sorgten die unzureichenden Angeboten der Arbeitergeber*innen für große Unruhe bei den Arbeiter*innen. Im März hat einer der größten Streiks der vergangenen Jahre stattgefunden. Die Dienstleistungsgesellschaft Ver.di und die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) haben deutschlandweit insgesamt rund 350.000 Beschäftigte in verschiedenen Bereichen zu einem 24-stündigen Warnstreik aufgerufen. Der Streik trifft den gesamten Verkehrssektor, einschließlich öffentlicher Verkehrsmittel, Bahn, Flughäfen, Häfen und Schleusen. Mehr als 30.000 Beschäftigte beteiligten sich an Streikaktionen an 350 Standorten.

Was sind die Forderungen?

► Die EVG fordert bei einer Laufzeit von einem Jahr Lohnerhöhungen von insgesamt zwölf Prozent, mindestens aber 650 Euro als "soziale Komponente". In ganz Deutschland fanden im Laufe des Tages mehr als 50 Kundgebungen statt.

► In Potsdam ging die Ver.di -Gewerkschaft in die Tarifverhandlungen für rund 2,4 Millionen Beschäftigte im öffentlichen Dienst. Die Gewerkschaft fordert 10,5 Prozent. Die Arbeitgeber*innen boten eine Erhöhung um 7 % an, allerdings nur für 24 Monate. Und eine Einmalzahlung von maximal 300 Euro ebenfalls nur für 24 Monate. Das sind 150 Euro pro Jahr. Die Bundeskommission erklärte die Verhandlungen für gescheitert.

Wie geht es weiter?

Die Arbeitgeber*innen haben die Schlichtung. Ein Verfahren, das seit 2011 vereinbart ist und in dem noch verhandelt wird, um ein Ergebnis zu erzielen. Während der Schlichtung besteht Friedenspflicht. Diese beginnt jedoch erst drei Tage nach dem Scheitern der Verhandlungen. Während dieses Zeitraums ist mit Streiks zu rechnen.

Kämpfe verbinden, Klassenkampf stärken!

Gewerkschaften und Antirassismus

Die Zurückhaltung der Gewerkschaften im antirassistischen Kampf wich, als der offen faschistische Flügel der AfD stärker wurde. Nachdem im August 2018 in Chemnitz ein junger Mann, selber of Color, bei einer Schlägerei mit einem irakischen Flüchtling starb, organisierten rechte Schlägertrupps Hetzjagden und Anschläge auf Migrant*innen. Große Teile der AfD-Führung demonstrierten mit gewaltbereiten Neonazis. Sie zeigten sie haben dasselbe Ziel: Mit Gewalt ein ethnisch und kulturell gereinigtes Deutschland schaffen. Bundesinnenminister Horst Seehofer legitimierte die Gewalt mit der Aussage Migration sei die »Mutter aller Probleme«. Viele Medien hetzten mit. Die Polizei tat nichts gegen die rassistischen Angriffe.

Mit der Alternative für Deutschland (AfD) hat sich eine faschistische Partei etabliert
Mit der Alternative für Deutschland (AfD) hat sich eine faschistische Partei etabliert, die bis weit in die politische Mitte strahlt. Sie hat einen starken national-sozialen Flügel, dessen völkischer Sozialpopulismus auch bei Lohnabhängigen und Erwerbslosen, darunter nicht wenige Gewerkschaftsmitglieder, wirkt. Die AfD verteidigt den fossilen Industriekapitalismus und agitiert gegen ein »heimatloses Großkapital«, das Profite »auf Kosten des deutschen Arbeitnehmers« ins Ausland transferiert.

Fakten statt Populismus

Ein anderes Hemmnis für eine offensive Gegenmobilisierung in den Gewerkschaften war die Selbstinszenierung der AfD als »Partei der kleinen Leute«, aufgrund der überdurchschnittlichen Zustimmung durch Arbeiter*innen, Erwerbslose und Gewerkschaftsmitglieder für die Partei bei den Landtags- und Bundestagswahlen 2016 und 2017. In der gewerkschaftlichen politischen Bildung wurden nach dem so genannten Sommer der Migration 2015 (als die Bundesrepublik fast eine Million Schutzsuchender aus den Kriegs- und Krisenländern des Mittleren Ostens aufnahm) Ansätze intensiviert, die der Hetze von Rechts einen realistischen Blick auf die Ursachen von Flucht und Migration entgegensetzen. Mit der Seminarreihe »Fakten statt Populismus« über die Asyl- und Migrationspolitik richtet sich z.B. Ver.di in erster Linie an Auszubildende und junge Beschäftigte.

 

Es entstand das #Unteilbar-Bündnis
Es entstand das #Unteilbar-Bündnis. Am 13. Oktober 2018 demonstrierten in Berlin mehr als 240.000 Menschen für eine offene und solidarische Gesellschaft in der die soziale Frage, der Kampf für gute Bildung und Arbeit und das Recht auf Flucht nicht gegeneinander ausgespielt werden. Sozialabbau und Rassismus sind eigenständige Probleme, aber auch verknüpft.

Klare Kante und offene Tür

Diese Erkenntnis fehlte den Gewerkschaften zuvor. Von nun an wurde häufiger der eigenständige rassistische Charakter der Partei als Bedrohung und Abwertung der migrantisch geprägten Mitgliedschaft in den Gewerkschaften betont. Als hilfreiche Handlungsmaxime haben die Gewerkschaften den Slogan »Klare Kante und offene Tür«: Klare Kante gegen rechts und gemeinsam gegen reaktionäre und für solidarische Lösungen sozialer Probleme kämpfen. Dies kann auf der gewerkschaftlichen und betrieblichen Ebene in vier Kernfeldern Wirkung entfalten:

  • Die Bedeutung gleicher Rechte für gemeinsame Kämpfe

    Die oft rassistische Spaltung der Belegschaften in Stamm- und Randgruppen bietet Anknüpfungspunkte, das Prinzip gleicher Rechte wie das Wahlrecht für alle unabhängig von der Staatsbürgerschaft als Stärkung der ganzen Klasse zu thematisieren.
     
  • Antirassistische Bildungsarbeit

    Die Gewerkschaften sollten stärker dazu beitragen, die Spaltung zwischen »uns« und »denen« zurückzudrängen. Es braucht ein historisches Verständnis des Rassismus. Fehlende Sprachkurse und Aufenthaltsrechte zeigen, dass die herrschende Klasse lange Zeit kein Interesse an Integrationspolitik hatte.
     
  • Die Debatte verschieben

    Die Rechten setzen der Verschlechterung der Arbeitsbedingungen und der sozialen Unsicherheit ein »wir gegen die anderen« entgegen. Dagegen müssen Gewerkschaften als Schutzmacht aller Lohnabhängigen – Beschäftigte, Arbeitslose, Prekäre, Migrant*innen etc. – gestärkt werden.
     
  • Vielfalt leben und verankern

    Die Arbeitskämpfe der letzten Jahre zeigen, dass die Fixierung auf eine weiße deutsche Facharbeiterschaft wenig mit der Realität zu tun hat. Knapp 22% aller IG-Metall-Mitglieder, 500.000 Menschen, haben einen Migrationshintergrund. Das muss auch in Gremien und Führungspositionen sichtbarer werden.

Nutzen und Weitergeben!

Nutzen und Weitergeben!

Erzählung: Dario Azzellini und Adriana Yee Meyberg, Grafik: Carina Crenshaw

Dies ist ein visuelles Storytelling inspiriert vom Artikel "Von der Symbolik zur Praxis. Die deutschen Gewerkschaften, Antirassismus und Gefahren von rechts" von Romin Khan, der in dem Sammelband "Mehr als Arbeitskampf! Arbeiterinnen und Arbeiter weltweit gegen Autoritarismus, Faschismus und Diktatur (externer Link, öffnet neues Fenster)" veröffentlicht wurde.

Dieses Story-Telling wird unter den Bedingungen der Creative Commons Lizenz CC BY 4.0 (externer Link, öffnet neues Fenster)veröffentlich! Teile, nutze oder adaptiere es für deine Bildungsarbeit. Vergiss nicht es weiter unter den gleichen Bedingungen zu veröffentlichen und dabei LINX und die Autor*innen zu erwähnen!

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