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Oktober
2022

Feminizide in Deutschland

Feminizide sind Morde an Frauen und Menschen, die von den Täter*innen als weiblich gelesen werden. Diese Morde passieren, weil die Täter*innen alles Weibliche abwerten und hassen.

"Vielmehr sieht sie in der gezielten Tötung von Frauen auch die Mitschuld des Staates. "
Der Begriff feminicidio wurde durch die lateinamerikanische Feministin Marcela Lagarde vor mehr als 40 Jahren geprägt. Durch die Ergänzung des „ni“ anstelle des femicidio, wollte sie hervorheben, dass es sich nicht um das Gleiche wie bei einem Mord (homicidio (span.) / homicide (engl.)) handelt. Vielmehr sieht sie in der gezielten Tötung von Frauen auch die Mitschuld des Staates.

Im Deutschen findet sich allerdings häufig der Begriff Femizid wieder. Aus oben genannten Gründen verwendet dieser Text aber weiter die Schreibweise Feminizide. Was viele der Bewegungen und Aktivistinnen im Kampf gegen Feminizide verbindet, ist der Wille, Gewalt, die Menschen in Verbindung mit ihrem Geschlecht oder ihrer sexuellen Orientierung erfahren, sichtbar zu machen und sie zu bekämpfen. Diese Gewalt kann viele Formen haben und wird oft unter dem Begriff geschlechtsspezifische Gewalt zusammengefasst

"In der Regel sind Feminizide der Höhepunkt einer langanhaltenden Gewaltgeschichte..."
Überall auf der Welt, in reichen und armen Ländern, in Industrie- und Schwellenregionen, werden jährlich insgesamt 50.000 Frauen pro Jahr von ihren aktuellen und ehemaligen Partnern, Vätern, Brüdern und anderen Familienmitgliedern aufgrund ihrer Rolle und ihres Status als Frau getötet.[1] (externer Link, öffnet neues Fenster) Etwa 90 Prozent aller weltweit registrierten Tötungsdelikte übten männliche Täter aus. In Europa registrierten die Behörden allein im Jahr 2017 über 3.000 Feminizide. [2] (externer Link, öffnet neues Fenster)

In der Regel sind Feminizide der Höhepunkt einer langanhaltenden Gewaltgeschichte, die zwischen Täter und Betroffener bestand. Der Grund dieser Gewalt ist ein Streben der Männer nach Kontrolle über Frauen und ihre Körper. Dieser Wunsch nach männlicher Herrschaft ist charakteristisch für die patriarchalen Strukturen unserer Gesellschaft. Dahinter steckt der Versuch der Männer selbst,  aber auch des Staates, die vorherrschende Gesellschaftsform und kapitalistische Produktionsweise zu stärken. Das passiert durch die Unterdrückung von Frauen, Lesben, inter, nicht-binärer, trans und agender Personen (kurz FlLINTA*). Ein Mittel dafür ist das Festhalten einer traditionell-stereotypen Arbeitsteilung der Lohn- und Reproduktionsarbeit nach Geschlecht. Die Konsequenz ist eine ungleiche Verteilung von Ressourcen, Macht und Teilhabe zugunsten von Männern. Diese Situation führt auch zu mangelndem Schutz von FLINTA* vor geschlechtsspezifischer Gewalt.

Feminizide in Deutschland: mehr als „alle drei Tage“

"Und das, obwohl in Deutschland seit 2018 die Istanbul-Konvention gilt."
Auf der Suche nach Zahlen und Daten zu Feminiziden stößt man immer wieder auf die „Alle drei Tage wird eine Frau getötet“-Aussage. Die tatsächliche Zahl der Feminizide ist dadurch aber nicht abgebildet, denn diese Statistik führt Tötungen durch unbekannte Täter oder Familienangehörige nicht auf. [3] (externer Link, öffnet neues Fenster)

Darüber hinaus erfasst die derzeitige Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) keine vermissten und schwerverletzten Frauen. Ebenso wenig fallen Frauen, die aufgrund anhaltender Gewalt Suizid begehen in diese Statistik.[4] (externer Link, öffnet neues Fenster)  Der feminizidale Suizid beschreibt eben jenen Selbstmord einer Frau als Folge erlebter geschlechtsspezifischer Gewalt. Ebenfalls nicht aufgeführt werden Feminizide an trans Frauen und nicht-binären Personen.[5]

 

Das unterstreicht, wie rar die Datenlage zu Feminiziden und anderen Gewaltformen gegen FLINTA* ist. Und das, obwohl in Deutschland seit 2018 die Istanbul-Konvention gilt. Diese internationale Menschenrechtskonvention beinhaltet eine Vielzahl von Regelungen und Maßnahmen gegen geschlechtsspezifische Gewalt.[6] Dazu gehört auch die Verpflichtung der Bundesregierung, genau aufgeschlüsselte statistische Daten über die Formen von Gewalt zu sammeln.[7] (externer Link, öffnet neues Fenster)

Sexismus und Rassismus in den Medien

"Die mediale Berichterstattung unterscheidet sich nach zugeschriebener Herkunft des Täters..."
In Artikel 11 der Istanbul-Konvention wird außerdem beschrieben, dass der Staat und die Medien Regelungen festlegen sollen, um Gewalt gegen Frauen zu verhindern und ihre Würde zu wahren. In den Medien in Deutschland finden sich aber oft Berichte über Gewalt an Frauen, die beschönigend sind und die Ursachen patriarchaler Gewalt nicht benennen.

Die mediale Berichterstattung unterscheidet sich nach zugeschriebener Herkunft des Täters: Wird er als Deutscher gelesen, stellt man ihn als verzweifelten Einzeltäter dar. Begeht ein Mann, der von den Autor*innen als „migrantisch“ gelesen wird, einen Feminizid, wird die Tat für rassistische und rechte Politiken instrumentalisiert. Auch suggerieren manche Medienberichte, Feminizide geschähen häufiger in migrantischen Teilen der Gesellschaft. Gewalt gegen Frauen ist aber keine Frage der sozialen Herkunft oder des Bildungsstandes.[8] (externer Link, öffnet neues Fenster)

Welche Fragen sich die Medien, Gesellschaft und Politik aber viel eher stellen sollten sind:

  • Was brauchen Betroffene von geschlechtsspezifischer Gewalt, um gefährlichen Beziehungen zu entfliehen und ihr Leben selbstbestimmt zu gestalten?
  • Welche politischen Maßnahmen braucht es, um das zu gewährleisten?

Was Aktivist*innen von der Politik fordern

"Seit dem Jahr 2016 gilt außerdem [...] Nein-heißt-Nein [...]."
Seit den 90er Jahren gibt es einige neue Gesetze zugunsten gewaltbetroffener Frauen, die sich an Behörden wenden. Dazu gehört das Gesetz, das seit 1997 Vergewaltigung in der Ehe strafbar macht. Seit dem Jahr 2016 gilt außerdem der sogenannte „Vergewaltigungsparagraf“ Nein-heißt-Nein, der nicht-konsensuelle sexuelle Handlungen unter Strafte stellt. [9] (externer Link, öffnet neues Fenster)

Gleichzeitig bleiben viele Maßnahmen gegen geschlechtsspezifische Gewalt lückenhaft.[10] (externer Link, öffnet neues Fenster) So geschieht es im Falle des Gewaltschutzgesetzes oft, dass zuständige Behörden wie das Jugendamt, das Familiengericht und das Strafgericht nicht zusammenarbeiten, um zum Beispiel Hochrisikofall-Analysen des Täters durchzuführen.[11] (externer Link, öffnet neues Fenster)Hinzu kommt, dass besonders migrierten und geflüchteten Frauen der Zugang zu Hilfestrukturen durch bestehende Asyl- und Bleiberechtsfragen, mangelnde Sprachmittlung oder Rassismus in den Behörden oft verwehrt bleibt.[12] [13] (externer Link, öffnet neues Fenster)Erhält eine Frau beispielsweise durch den Familiennachzug ihren Schutzstatus in Abhängigkeit von ihrem Ehemann, ist es für sie schwierig sich Hilfe zu suchen. Denn die Entscheidung gegen den Täter vorzugehen und beispielsweise anzuzeigen, kann ihren Aufenthaltsstatus gefährden.

Geschlechtsspezifische Gewalt und Migration

"Weltweit sind über die Hälfte der Flüchtenden Frauen."
Weltweit sind über die Hälfte der Flüchtenden Frauen. Geschlechtsspezifische Gewalt sowie Feminizide, aber auch Zwangsheirat, sexualisierte Gewalt, Zwangsverstümmelungen oder Bildungsverbote gehören dabei sowohl zur Fluchtursache als auch zur Fluchterfahrung für sie. Diese geschlechtsspezifischen Gewaltformen gelten laut UNHCR als Verfolgungsgrund. [14] (externer Link, öffnet neues Fenster)

Aktuelle Beispiele sind das Bildungsverbot für Frauen in Afghanistan seit der Machtübernahme der Taliban, bis hin zu Frauenmorden in Lateinamerika, die die #NiUnaMenos Proteste auslösten. Und das sind nur einige Formen der Gewalt, denen Frauen in unterschiedlichen Orten ausgesetzt sind.

Geschlechtsspezifische Gewalt nachzuweisen ist jedoch schwierig, da sie oft im privaten Raum passiert, wo der Staat die Opfer unter Beweispflicht stellt. Gründe für geschlechtsspezifische Verfolgung sind erst dann gegeben, wenn der Staat seiner Verantwortung nicht nachkommt, die Frauen zu schützen.

Theoretisch ist also diese Form der Gewalt als Fluchtgrund anerkannt, praktisch fehlt es jedoch an staatlicher Unterstützung und Sensibilität zu diesem Thema. Denn wie das „ni“ im Begriff Feminizid nahelegt, steht hinter geschlechtsspezifischer Gewalt auch eine strukturelle Ebene. Dazu zählt beispielsweise, dass diese Gewalt staatlich möglich gemacht oder begünstigt wird, wie auch in den Lücken der staatlichen Maßnahmen, deutlich wird.

Es ist also auch die staatliche Verantwortung, um die es bei Feminiziden und geschlechtsspezifischer Gewalt geht und die Frauen einerseits zur Migration bewegt, aber auch in ihrer Mobilität, auf dem Weg sowie im Ankunftsland ihr Leben erschwert. 

"Dieser Druck treibt Veränderungen in Gesellschaft und Staat an."
Dass geschlechtsspezifische Gewalt und speziell Feminizide in Deutschland mehr und mehr von den Medien und der Politik benannt werden, liegt an dem andauernden Druck vieler internationalistischer Bewegungen von FLINTA* weltweit. Auch Feminist*innen in Deutschland machen durch öffentliche Aktionen, Kampagnen und Petitionen auf die Missstände in Deutschland aufmerksam. Dieser Druck treibt Veränderungen in Gesellschaft und Staat an. Und das mit Erfolg: Die größte Nachrichtenagentur Deutschlands dpa verzichtet aufgrund eines offenen Briefes von Gender Equality auf verharmlosende Bezeichnungen für Feminizide.

Das Netzwerk gegen Feminizide weihte Ende 2020 in Berlin den Widerstandsplatz ein, um dort mit Kundgebungen und diversen Veranstaltungen an die Öffentlichkeit zu appellieren. Bei jedem Feminizid in Berlin versammeln sich dort Aktivist*innen und formulieren ihre Forderungen. Dazu zählt die Forderung nach einer umfassenden Prävention von geschlechtsspezifischer Gewalt unter Beteiligung der Zivilgesellschaft. Außerdem kämpft das Netzwerk für die Anerkennung geschlechtsspezifischer Gewalt als Fluchtgrund und setzt sich für einen bedingungslosen Aufenthaltstitel ein.

 

Schließt euch im Kampf gegen Feminizide an und stärkt die Rechte aller FLINTA in Deutschland und weltweit!

#NiUnaMenos

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#keinemehr - Femizide in Deutschland

Die Broschüre #keinemehr klärt über Femizide/Feminizide in Deutschland auf. Damit ist die Tötung von Frauen und weiblich gelesene Menschen gemeint, die auf einen tiefliegenden Frauenhass zurückzuführen ist. Seit 2015 thematisiert die Bewegung „Ni una menos“ = „Nicht eine weniger“ Femizide in Lateinamerika und Argentinien und wehrt sich gegen das System, welches Frauen und weiblich gelesene Personen auf allen Ebenen im unterschiedlichen Ausmaß abwertet.

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Ein Beitrag von Lisa Rechenberg und Rebecca Gotthilf.

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz CC BY-NC-ND 4.0  (externer Link, öffnet neues Fenster) veröffentlicht und darf auch so weiterbenutzt und geteilt werden.

Quellen

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