Die Kurdinnen und Kurden – eine Gemeinschaft, verteilt auf vier Länder. Seit der Staatsgründung von Syrien, Türkei, Irak und Iran kämpft die kurdische Freiheitsbewegung für Demokratie und Selbstbestimmung. Wir beleuchten die Hintergründe der kurdischen Frage, die Bedeutung Kurdistans, die Rolle Deutschlands und den demokratischen Konföderalismus als Lösungsansatz – sowie dessen Umsetzung in der demokratischen Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien, auch Rojava genannt.
1. Einführung
2. Was ist Kurdistan und wo liegt es?
3. Die Geschichte der kurdischen Frage
4. Die Rolle Deutschlands in der kurdischen Frage
5. Antworten auf die kurdische Frage: Rojava und der demokratische Konföderalismus
6. Was tun?
Vom großen Verlierer der Neuaufteilung des Nahen und Mittleren Ostens nach dem Ersten Weltkrieg hin zu einem Hoffnungsträger für einen demokratischen Wandel in der gesamten Region – so könnte die Geschichte der Kurd*innen in den letzten rund 100 Jahren auf den Punkt gebracht werden. Mit der Revolution von Rojava wurde der demokratische Konföderalismus als Gesellschaftsmodell in der Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien etabliert. Wir bieten einen Einstieg in die kurdische Frage, in die kurdische Freiheitsbewegung und den demokratischen Konföderalismus als Lösungsansatz für Kurdistan und die Krise in der Region.
In der kurdischen Frage gibt es vielseitige Perspektiven, Ereignisse, Akteur*innen, Erfahrungen und Ansätze. Die Realität in der Region und ihre Geschichte ist komplex. Mit dem Fokus auf den demokratischen Konföderalismus und die kurdische Freiheitsbewegung werfen wir einen entscheidenden, aber spezifischen Blick auf die kurdische Frage. Am Ende des Beitrags gibt es eine Ressourcensammlung, die zur Beschäftigung mit weiteren Blickwinkeln einladen soll.
Kurdistan wird als geografischer Raum verstanden, der die historischen wie gegenwärtigen Siedlungsgebiete der Kurd*innen darstellt. Er zeichnet sich durch eine große Vielfalt an Sprachen, Kulturen, natürlichen Umgebungen und religiösen Überzeugungen aus, während die Kurd*innen sich trotz dieser Diversität als ein Volk verstehen. Diese Einheit und Vielfalt sind über Jahrtausende gewachsen und begründen das Bestreben der Kurd*innen nach einem vereinten, selbstverwalteten Heimatland. Einige Staaten, in deren Gebiet diese Region liegt, lehnen die Bezeichnung Kurdistan ab oder verbieten ihre Verwendung. Im Gegensatz dazu wird der Begriff von weiten Teilen der kurdischen Bevölkerung unterstützt und aktiv eingefordert.
In der Türkei und in Bakûr geht die Zahl der inhaftierten Kurd*innen in die Tausende. Tote, Verletzte und Massenverhaftungen durch die „Sicherheitskräfte“ sind hier an der Tagesordnung.
Im Iran und Rojhilat setzt das Regime auf eine rigide Unterdrückungspolitik gegenüber der kurdischen Bevölkerung. Unzählige kurdische Aktivist*innen befinden sich in Haft, viele von ihnen wurden zum Tode verurteilt und müssen mit ihrer Hinrichtung rechnen.
Die Kurd*innen in Başûr leiden nicht nur unter der allgemeinen Instabilität im Irak, sie sind auch den Angriffen der Nachbarstaaten Iran und Türkei ausgesetzt. Eine weitere Gefahr stellt der sogenannte Islamische Staat (IS) dar, der weiterhin in der Region im Untergrund agiert.
In Rojava hingegen ist das demokratische Selbstverwaltungsmodell den permanenten Angriffen der Türkei und von der Türkei gelenkter Dschihadistengruppen ausgesetzt. Ihr Schicksal ist nach dem Sturz des Assad-Regimes völlig im Unklaren.
Was sind die Ursprünge der kurdischen Frage? Was waren die Anfänge der kurdischen Freiheitsbewegung? Um dies zu verstehen, werfen wir einen Blick auf wichtige Ereignisse der letzten 100 Jahre.
Was hat Deutschland mit der kurdischen Frage zu tun? Zunächst leben in Deutschland schätzungsweise 1,3 Millionen Kurd*innen und sind damit eine der größten migrantischen Gruppen in Deutschland. Viele sind nach Deutschland geflohen oder migriert, weil sie in ihrer Heimat massiver Unterdrückung, Vertreibung und genozidalen Angriffen ausgesetzt sind. Verantwortlich dafür ist u.a. die Türkei, deren politische Führung bereits seit der Staatsgründung Kurd*innen in ihrem Staatsgebiet dauerhaft verfolgt. Gleichzeitig ist die Türkei ein wichtiger militärischer, wirtschaftlicher und politischer Partner für die Bundesrepublik Deutschland.
Während die meisten Migrant*innen ihre kulturelle Identität – zum Beispiel durch Vereine, Medien oder Kultureinrichtungen – frei ausleben können, stehen kurdische politische, kulturelle und soziale Aktivitäten häufig unter dem pauschalen Verdacht eines „PKK-Bezugs“. Dies führt zu ständiger Überwachung, Diffamierung und Kriminalisierung nahezu aller kurdischen Aktivitäten in Deutschland. Dadurch werden wiederholt Grundrechte wie die Versammlungs- und Meinungsfreiheit erheblich eingeschränkt.
Um die kurdische Frage lösen zu können, braucht es einen Demokratisierungsprozess im Sinne einer Anerkennung des Selbstbestimmungsrechtes des kurdischen Volkes. Um diesen voranzutreiben, ist es unabdingbar den Dialogprozess mit den Konfliktparteien zu fördern. Die Aufhebung des PKK-Verbots spielt dabei eine entscheidende Rolle. Folgende Argumente sprechen für die Aufhebung des Verbots:
Der Vertrag von Lausanne 1923, der die Kurd*innen von der Gründung eines eigenen Staates ausschloss, markierte einen Wendepunkt und wird vielfach als Ursache ihrer anhaltenden Tragödie betrachtet. Daraus ergab sich für viele die Überzeugung, dass die Schaffung eines eigenen Staates notwendig sei, um sich aus der Unterdrückung durch die Türkei, den Iran, den Irak und Syrien zu befreien. Der Ausschluss von staatlicher Souveränität nach dem Vertrag von Lausanne legte für viele Kurd*innen die Vorstellung eines eigenen Staates als mögliche Lösung nahe. Doch nicht alle Kurd*innen kämpften für die Gründung eines eigenen Staates; Vielmehr entwickelten sich im Laufe der Zeit auch alternative Strategien zur Selbstbestimmung und Emanzipation.
Nicht nur Staatenlosigkeit, sondern auch Staatsgründungen sind daher Gründe für die tiefgreifenden gesellschaftlichen Krisen der Region. Am Beispiel der Revolution in Rojava wird deutlich, wie die praktische Umsetzung dieses alternativen Gesellschaftsmodells aussehen kann. Die folgenden Säulen der Revolution in Rojava finden sich im Gesellschaftsvertrag der Demokratischen Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens (Abkürzt: DAANES).
Der Weg zur Umsetzung dieses Modells erfordert zweifellos einen langen Atem. Eine Revolution und die Transformation einer Gesellschaft vollziehen sich nie ohne Widersprüche und Schwierigkeiten. Und das Vakuum, das nach dem Ausbruch des syrischen Bürgerkriegs in Nordsyrien entstand und die Revolution in Rojava ermöglichte, war eine wohl einmalige historische Chance. Hier traten 2012 zuvor im Untergrund organisierte gesellschaftliche Strukturen an die Öffentlichkeit und verdrängten die bestehenden staatlichen Strukturen. Diese Möglichkeit bot sich auch deshalb, weil der syrische Zentralstaat durch den Bürgerkrieg extrem geschwächt war.
Ganz anders ist die Situation beispielsweise in Nordkurdistan und der Türkei. Auch hier setzt die Gesellschaft auf Selbstorganisation statt auf staatliche Bevormundung. Doch die türkische Regierung greift mit ihrem Repressionsapparat die Gesellschaft permanent an und versucht, die Bestrebungen zum Aufbau eines alternativen Systems in den kurdischen Siedlungsgebieten vehement zu bekämpfen.
Aber der anhaltende Konflikt setzt die Regierung in Ankara massiv unter Druck, auch weil kurdische Akteur*innen gemeinsam mit anderen Teilen der Gesellschaft seit Jahren eine starke Opposition aufbauen, wie sie es gegenwärtig unter dem Dach der DEM-Partei tun. Letztlich ist es der gesellschaftliche Widerstand gegen die Politik des türkischen Staates, der auch bei hartgesottenen Nationalisten im Regierungsapparat die Erkenntnis reifen lässt, dass der Weg zur Lösung der kurdischen Frage über politische Verhandlungen mit dem Urheber dieses Konzepts, also mit Abdullah Öcalan, führt. Trotz mehr als 25 Jahren Haft gilt er weiterhin als der wohl wichtigste politische Repräsentant der Kurd*innen über Nordkurdistan hinaus.
Auch wenn die Zeichen derzeit eher auf Eskalation als auf Friedensgespräche stehen, hat Öcalan in der Vergangenheit mit der „Roadmap für Verhandlungen“ ein Dokument vorgelegt, mit dem er den Weg zu einem dauerhaften Frieden, zur Lösung der kurdischen Frage sowie zur Demokratisierung der Türkei und der gesamten Region aufgezeigt hat.
So bemerkenswert die Strukturen Rojavas sind, so gefährdet sind sie auch. Nach 2014 stellte der sogenannte Islamische Staat (IS) die größte Gefahr für Rojava dar, als er einen Großangriff auf Kobanê startete. Der IS scheiterte und die Selbstverteidigungskräfte der Revolution konnten in der Folge zahlreiche Gebiete befreien, die zuvor unter der Kontrolle der Islamisten standen. Auch in diesen Gebieten wird seitdem der demokratische Konföderalismus praktiziert. Seither stellt der türkische Staat die größte Bedrohung für die Selbstverwaltung dar. In den Jahren 2018 und 2019 intervenierte die türkische Armee zweimal in Nordsyrien und hält seitdem Teile der Region völkerrechtswidrig besetzt. Der tägliche Terror durch türkische Drohnenangriffe gegen Vertreter*innen der Selbstverwaltung und Zivilist*innen ist ebenfalls Teil der permanenten Bedrohungslage. Nach dem Sturz des Assad-Regimes Anfang Dezember 2024 und der Machtübernahme der islamistischen Organisation Hayat Tahrir al-Sham setzen die Türkei und ihre dschihadistischen Partner der Syrischen Nationalarmee auf eine völlige Eskalation des Krieges in Nordsyrien. Die Revolution von Rojava ist deshalb mittlerweile nicht nur unter Beschuss, sie ist in großer Gefahr.
Auf Demos gehen, Kontakte zu kurdischen Strukturen knüpfen, sich organisieren, spenden oder einfach das eigene Umfeld für das Thema sensibilisieren...
Der Erfahrungsschatz der kurdischen Freiheitsbewegung bietet hierfür zahlreiche Hilfestellungen. Hier findet ihr eine Auswahl an Bildungsressourcen, Links und Informationen, die bei der Weiterbeschäftigung mit der kurdischen Frage hilfreich sind.
Bei Fragen melde dich gerne bei Civaka Azad (Mail: info(at)civaka-azad.org). Wir sind das kurdische Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit und sind eine Anlaufstelle für Interessierte an der kurdischen Frage.
Beitrag von Civaka Azad – Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit (externer Link, öffnet neues Fenster). Online Redaktion von Pia Monroy Rodriguez, Alina Kopp. Die Texte und einige Bilder werden unter den Bedingungen der Creative Commons Lizenz CC BY 4.0 (externer Link, öffnet neues Fenster)veröffentlicht. Teile, nutze oder adaptiere es für deine Bildungsarbeit. Vergiss nicht es weiter unter den gleichen Bedingungen zu veröffentlichen und dabei LINX und die Autor*innen zu erwähnen!
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